Public AI – White Paper

von | 5. Juni 2025 | Blog, Literatur, Open Source Software

Die Künstliche Intelligenz steht heute an einem entscheidenden Scheideweg. Während ihr Potenzial, unsere Gesellschaft grundlegend zu verändern, kaum zu überschätzen ist, sammelt sich die Macht über ihre Entwicklung bei immer weniger Akteuren. Eine kleine Gruppe von Technologiekonzernen kontrolliert nicht nur die leistungsfähigsten KI-Systeme, sondern auch die gesamte Infrastruktur dahinter – von den Rechenzentren über die Datenbestände bis hin zu den Cloud-Plattformen. Diese Konzentration bedroht die Grundprinzipien einer offenen, transparenten und demokratisch verantwortlichen Technologieentwicklung.

Das neue White Paper „Public AI“ der Bertelsmann Stiftung und Open Future entwickelt eine systematische Antwort auf diese Herausforderung. Die Autoren um Dr. Felix Sieker und Dr. Alek Tarkowski entwerfen eine Vision der KI-Entwicklung, die auf Transparenz, demokratischer Steuerung und offenem Zugang zu kritischen Ressourcen basiert. Dabei stellen sie eine zentrale Frage: Was bedeutet „Offenheit“ im Kontext der Künstlichen Intelligenz wirklich, und wie können wir sicherstellen, dass diese Technologie dem Gemeinwohl dient? Um die Machtstrukturen in der KI-Landschaft zu analysieren, führen die Autoren das Konzept des „KI-Stacks“ ein. Dieser beschreibt die verschiedenen, voneinander abhängigen Schichten, aus denen KI-Systeme bestehen. An der Basis liegt die Compute-Ebene mit der physischen Infrastruktur aus Grafikprozessoren, Rechenzentren und Software-Frameworks. Hier zeigt sich bereits eine extreme Konzentration bei wenigen Anbietern wie Nvidia und den großen Cloud-Providern. Darüber befindet sich die Daten-Ebene, in der ein paradoxer Zustand herrscht: Während Daten scheinbar im Überfluss vorhanden sind, entstehen gleichzeitig künstliche Knappheiten. Proprietäre Datensätze werden zu Wettbewerbsvorteilen, während die rechtlichen Grundlagen für die Nutzung öffentlich verfügbarer Daten unklar bleiben. Die Modell-Ebene umfasst die eigentlichen KI-Systeme mit ihren Architekturen und trainierten Parametern, wobei sich eine Unterscheidung zwischen großen Fundamentmodellen und spezialisierten Anwendungsmodellen etabliert hat. An der Spitze stehen schließlich die nutzerorientierten Anwendungen, die letztendlich die gesellschaftliche Wirkung entfalten.

Offenheit als demokratisches Prinzip

Die Kernthese des Papers lautet, dass systematische Offenheit der Schlüssel zur Demokratisierung der KI-Entwicklung ist. Doch die Autoren warnen vor oberflächlichen Ansätzen des „Open-Washing“, bei dem Unternehmen ihre Systeme als offen vermarkten, ohne die entsprechenden Standards zu erfüllen. Echte Offenheit bedeutet die vollständige Veröffentlichung von Modellparametern, Architektur, Quellcode, Trainingsdaten und Dokumentation unter freien Lizenzen. Diese Transparenz ermöglicht unabhängige Überprüfung, wissenschaftliche Reproduzierbarkeit und senkt die Barrieren für Experimente und Innovation. Mehr noch: Sie schafft die Voraussetzungen für eine demokratische Kontrolle über Technologien, die zunehmend gesellschaftliche Entscheidungen beeinflussen.

Um politischen Entscheidungsträgern ein praktisches Werkzeug an die Hand zu geben, entwickeln die Autoren den „Gradient of Publicness“ – ein Framework zur systematischen Bewertung von KI-Initiativen. Dieser Gradient betrachtet drei Dimensionen: die Attribute eines Systems (wie Zugänglichkeit und Interoperabilität), seine Funktionen (soziale oder wirtschaftliche Ziele) und die Kontrollmechanismen (demokratische Governance-Strukturen). Das Framework hilft dabei, KI-Projekte auf einem Spektrum von vollständig kommerziell bis vollständig öffentlich einzuordnen und dabei besonders die Abhängigkeit von proprietären Ressourcen zu berücksichtigen. Diese Analyse offenbart, dass selbst scheinbar offene Projekte oft auf geschlossene Compute-Infrastrukturen angewiesen sind, was ihre Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit gefährdet.

Drei Wege zur öffentlichen KI

Basierend auf dieser Analyse schlagen die Autoren drei komplementäre Strategien vor. Der Compute-Pfad fokussiert sich auf die Bereitstellung strategischer öffentlicher Rechenressourcen, um Open-Source-Entwicklung und wissenschaftliche Forschung zu unterstützen. Ohne Zugang zu ausreichenden Rechenkapazitäten bleiben auch die besten Intentionen für offene KI-Entwicklung wirkungslos. Der Daten-Pfad betont die Schaffung hochwertiger Datensätze als digitale öffentliche Güter. Durch Commons-basierte Governance-Strukturen sollen diese Ressourcen vor kommerzieller Vereinnahmung geschützt und gleichzeitig für innovative Anwendungen verfügbar gemacht werden. Der Modell-Pfad zielt auf den Aufbau eines nachhaltigen Ökosystems vollständig quelloffener KI-Modelle ab. Dies umfasst sowohl hochleistungsfähige „Capstone-Modelle“, die mit den besten kommerziellen Systemen konkurrieren können, als auch spezialisierte kleinere Modelle für spezifische Anwendungsbereiche.

Neue Formen der Governance

Public AI erfordert neue institutionelle Formen, die über traditionelle Regulierungsansätze hinausgehen. Die vorgeschlagenen Governance-Prinzipien umfassen missionsorientierte Entwicklung, bei der öffentliche Ziele klar definiert und verfolgt werden, Commons-basierte Steuerungsstrukturen, die demokratische Partizipation ermöglichen, und bedingte Computing-Zuweisungen, die sicherstellen, dass öffentliche Ressourcen auch öffentlichen Zielen dienen. Besonders wichtig ist dabei der Schutz digitaler Rechte und die Förderung nachhaltiger Entwicklungspraktiken. Reziprozitätsprinzipien sollen gewährleisten, dass diejenigen, die von öffentlichen KI-Ressourcen profitieren, auch zur Gemeinschaft beitragen. Das White Paper macht deutlich, dass punktuelle Interventionen nicht ausreichen werden. Stattdessen bedarf es einer koordinierten Strategie über den gesamten KI-Stack hinweg, orchestriert von neuen öffentlichen Institutionen. Das Ziel ist die Schaffung eines Ökosystems öffentlicher generativer KI-Infrastrukturen, das die Technologieentwicklung systematisch an öffentlichen Werten ausrichtet.

Die Frage nach Offenheit erweist sich dabei als weit mehr als ein technisches Detail. Sie wird zur Grundlage für demokratische Teilhabe an einer der bedeutendsten technologischen Revolutionen unserer Zeit. Nur durch systematische Offenheit können wir sicherstellen, dass Künstliche Intelligenz tatsächlich dem Gemeinwohl dient, anstatt bestehende Machtasymmetrien zu verstärken und neue Abhängigkeiten zu schaffen.

Die Autoren bieten politischen Entscheidungsträgern und Geldgebern einen praxisorientierten Leitfaden zur Umsetzung dieser Vision.

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